von Dorrit Bartel
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23. Oktober 2024
Ich habe dieser Tage meinen Flug nach Dakar für diesen Winter gebucht. Wie jedes Jahr vorerst nur den Hinflug, da ich noch keine Ahnung habe, wie lange ich bleiben oder ob ich noch in ein anderes afrikanisches Land reisen werde, von dem aus ich womöglich direkt zurück nach Berlin fliege … Obwohl ich das nun schon ein paar Jahre so mache, bin ich jedes Mal wieder aufgeregt, wenn ich das Ticket habe und die Tage und Wochen bis zu meinem Abflug herunterzähle. Ich freue mich auf mein anderes Leben auf dem anderen Kontinent, auf meine Freunde dort, auf das andere Lebensgefühl und – ich gebe es zu – auch darauf, in Sonne und Wärme zu arbeiten, während es in Berlin grau und kalt ist. Was für ein Privileg, so reisen zu können: Niemanden fragen zu müssen, ob ich fliegen darf. Mit meinem deutschen Reisepass steige ich einfach so ins Flugzeug und bekomme in Dakar einen Stempel, der mir für drei Monate gestattet, mich frei in dem Land zu bewegen. Dabei interessiert es den senegalesischen Staat nicht, ob ich mit irgendjemanden dort verlobt oder besonders befreundet bin. Auch muss ich nicht beweisen, dass ich genug Geld habe, meinen Aufenthalt zu finanzieren. Ich muss lediglich eine Adresse angeben, unter der ich zunächst wohne, wobei unerheblich ist, wie lange ich unter der Adresse dann tatsächlich zu finden sein werde. Ein Privileg , denke ich, während ich im Warteraum des Berliner Landesamt für Einwanderung sitze, um eine Verpflichtungserklärung für einen senegalesischen Freund – nennen wir ihn hier Omar – abzugeben, der seinerseits gern einmal nach Deutschland reisen möchte. Ich erkläre mit meiner Unterschrift, dass ich für alle Kosten aufkomme, die bei einer Reise von Omar nach Deutschland entstehen. Nicht dass Omar das nötig hat, aber vermutlich sind seine Chancen auf ein Schengen-Visum größer, wenn ich für ihn bürge. Ich lernte Omar über gemeinsame Freunde im Januar 2023 in Kedougou, einer Stadt im Südosten des Senegal kennen. Er ist Bauunternehmer, seine Firma baut Straßen und Brücken in der Region Kedougou und liefert außerdem für Gold- und Kobaltminen im Senegal und in Guinea-Conakry Material und Personal. Er war ein großartiger Gastgeber, nicht nur, weil er mir für fünf Tage einen Chauffeur zur Verfügung stellte, der mich durch die Region fuhr: In den Nationalpark Niokolo-Koba, zu den Dindefelo-Wasserfällen, ins Bassari-Land, wo die Menschen noch weitgehend unberührt von der Zivilisation leben. Sondern auch, weil ich bei ihm zum ersten Mal ein aufgeräumtes afrikanisches Unternehmen kennenlernte. Das fiel mir zuerst beim Blick auf seinen Schreibtisch auf, der nach Arbeit, aber nicht nach Chaos aussah. Später führte er mich über den Hof, der nicht die kleinste Spur der in Afrika üblichen Dreckecken oder halbfertigen Gebäude aufwies, von denen man anderswo oft nicht sicher sein kann, ob sie sich je in ein fertiges verwandeln werden. Alles war aufgeräumt und sauber, selbst die Toilette, was in Afrika wirklich sehr selten ist, zumindest bei solchen, in die sich normalerweise keine Touristen verirren (und selbst dort ... aber das ist ein anderes Thema). Mir war sofort klar, dass Omar sein Unternehmen akribisch führt. Ich sah es zwei Tage später bestätigt, bei einer offiziellen Veranstaltung. Verschiedene Bauunternehmer präsentierten sich mit ihren Fahrzeugen, und während die LKW von Omars Konkurrenten die in Afrika üblichen schiefen oder kaputten Stoßstangen und gesprungene Scheiben aufwiesen, glänzten die Fahrzeuge von Omar makellos. Was sicher auch auf den senegalesischen Minister für Stadtentwicklung, Wohnungswesen sowie öffentliche Hygiene Eindruck gemacht hat, den Special Guest dieser Veranstaltung. Am späten Nachmittag jenes Tages fuhr ich mit Omar und einem Kollegen noch an den Rand der Stadt Kedougou, wo Omar ein Grundstück besitzt, das er landwirtschaftlich bewirtschaften will. Da überraschte es mich schon nicht mehr, dass auch dort alles sehr aufgeräumt und die zukünftige Struktur der Farm bereits erkennbar war. Bei unserer Abfahrt schärfte Omar dem Angestellten vor Ort ein, das herumliegende Werkzeug nach getaner Arbeit ordentlich im Schuppen zu verstauen. Omar war übrigens auch der erste Afrikaner, der mir einmal fünf Minuten vor unserer Verabredung per WhatsApp mitteilte, dass er sich um ca. zehn Minuten verspäten werde. Solche Verspätungen sind in Afrika so üblich, dass sich sonst niemand die Mühe macht, sie anzukündigen. Deutsche Freunde, denen ich von Omar erzähle, fragen mich regelmäßig, ob er in Europa gelebt und/oder studiert hat. Hat er nicht. Er hat alles im Senegal gelernt, vor allem in den zwei Jahren, in denen er eng mit einem Kanadier zusammenarbeitete. Omar sagt, es war manchmal hart, wenn alle seine Freunde Samstagabend feierten, während er arbeitete. Aber es war das, was er wollte. Man muss die Dinge tun, die einem wichtig sind, darin waren wir uns einig. Die Betonung lag auf: Tun. Am Ende meines Aufenthalts in Kedougou rettete Omar mir beinahe noch das Leben. Ich hatte einen Nachtbus nach Dakar nehmen wollen, aber er ließ sich am Sonntag ohnehin von einem seiner Mitarbeiter nach Dakar fahren und fand, ich solle doch mit ihnen fahren. Ich entschied mich für die komfortable Variante. Abfahrt war um 6 Uhr morgens. Nach zwei Stunden Fahrt spendierte Omar ein Frühstück in einem Hotel, in dem es für den Kaffee echte Milch gab und nicht das übliche Milchpulver. Als ich vier Stunden später eine an Pinkelpause dachte, hielt der Jeep just in diesem Moment an einer Tankstelle. Diese unaufdringliche Zugewandtheit schätzte ich während der fünf Tage mit Omar besonders. Einen Teil der Fahrt verbrachten wir fassungslos schweigend, nachdem Omar mir die Radionachrichten von Wolof ins Französische übersetzt hatte: In der Nacht zuvor hatte es auf genau dieser Strecke einen Busunfall mit über fünfzig Toten gegeben. Auf einer provisorischen Umleitung fuhren wir über einen Feldweg an der Unfallstelle vorbei. Möglicherweise hätte ich genau in einem der Busse gesessen, wenn ich nicht mit Omar gefahren wäre. (Die Meldung über diesen Busunfall war übrigens im Jahr 2023 eine der wenigen Nachrichten, die es aus dem Senegal in die Hauptnachrichten des deutschen Fernsehens schafften und ich wunderte mich nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal darüber, wie die Auswahl der Nachrichten aus afrikanischen Ländern zustande kommt. Und welches Bild sie in Deutschland vermitteln.) Es verstand sich von selbst, Omar bei unserer Verabschiedung in Dakar nach Berlin einzuladen. Den Teil mit dem Leben retten könnten wir weglassen, aber ich würde ihm gern etwas von Berlin und Deutschland und meinem normalen Leben zeigen. Damit er sich ein eigenes Bild machen kann. In der folgenden Zeit texteten wir hin und wieder – mal schickte er Bilder vom Treffen junger afrikanischer Unternehmer in Bamako, mal vom Weg zu Minen in Guinea-Conakry oder Ruanda, wo er plante, ein Tochterunternehmen zu eröffnen. Einmal kündigte er seinen Besuch in Berlin an: Er plane den Besuch einer Messe für Baumaschinen in Norwegen und wolle auf dem Rückweg einen Abstecher nach Berlin machen. Dann hörte ich sehr lange nichts von ihm, die Zeit seines angekündigten Besuchs verstrich, und ich vermutete, dass man ihm kein Visum gegeben hatte. Was er sehr viel später indirekt bestätigte, als er fragte, ob ich ihm eine Einladung für ein Schengen-Visum schicken könne. Ich habe in meiner Einladung (ein Schreiben für Omar, eines für die Botschaft) nicht behauptet, dass wir ineinander verliebt oder ein Paar sind, wie es sonst manchmal gemacht wird. Ich habe einfach eine Kurzform dessen geschrieben, was ich in diesem Text erzähle, und die deutsche Botschaft gebeten, Omar ein Visum zu erteilen. Ich bin gespannt, ob er demnächst einfach in Berlin aus dem Flugzeug steigen und sich für drei Monate frei in Deutschland bewegen darf. So wie ich es in seinem Heimatland darf – durch das unverdiente Privileg, in Deutschland geboren worden zu sein.