von Dorrit Bartel
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30. Mai 2023
Als Lektorin und Autorin misstraue ich großen Worten, Bestimmung oder Schicksal verwende ich eher nicht. Oder Völkerverständigung , obwohl sich das neuerdings manchmal in meinen aktiven Wortschatz schleicht, wenn ich versuche zu erklären, warum ich immer wieder nach Afrika reise und darüber schreibe. Warum mir das wichtig ist. Mein Zugang zu Sprache ist kleinteiliger, aufs Detail achtend. Trotzdem hat mich die Blogchallenge #blogyourpurpose von Judith Peters gereizt und mir einen Anlass geboten, mich mit der Frage zu beschäftigen, die mir immer wieder gestellt wird: Was verbindet mich mit Afrika? Dafür muss ich etwas weiter ausholen. Von Mecklenburg, wo ich aufwuchs, nach Afrika ist es ein weiter Weg. Ich verspreche aber, dass wir am Ende dieses Textes in Afrika sind. Die Erschütterung meines Lebens … … waren die Jahre nach dem Mauerfall. Zum Zeitpunkt dieses historischen Ereignisses war ich zwanzig und lebte – ostsozialisiert – in meiner Heimatstadt Schwerin. Die Wochen und Monate danach erlebte ich euphorisch, neugierig und herausgefordert. Es galt, jeden Tag von Gewohnheiten Abschied zu nehmen, neue Beobachtungen zu verarbeiten, Erkenntnisse zu gewinnen und ungewohnte Erfahrungen zuzulassen. Ich war gespannt, wohin mich das alles führen würde. Was mich jedoch erschütterte, war, dass die Menschen, die nicht im Osten gelebt hatten, alles über uns zu wissen schienen. Sie erzählten uns unsere Geschichte, wussten, wie das mit der Stasi war und dass wir entweder alle Täter oder Opfer gewesen waren. Dass der solidarische Umgang, den wir miteinander pflegten, nur der Not geschuldet gewesen war. Sie wussten, dass wir massive Defizite in jeder Hinsicht und nicht gelernt hatten, eigeninitiativ zu denken und zu arbeiten. Sie wussten, dass wir ständig unter leeren Warenregalen gelitten hatten und naiv waren – so nannten sie es, weil wir nicht damit rechneten, dass jeder um uns herum darauf aus war, irgendwie an Geld von uns zu kommen, obwohl sie wussten, dass wir keines hatten. Es tat mir weh, auf diese Punkte reduziert und nicht gefragt zu werden, wie es mir tatsächlich gegangen war. Das Urteil über mich und meine Vergangenheit stand fest und viele Facetten meines Lebens blieben unberücksichtigt. Selbst in persönlichen Gesprächen wurde kaum differenziert. Tenor: Ich solle dankbar sein über die Möglichkeiten, die sich mir jetzt boten. Das war und bin ich, aus tiefstem Herzen. Ich möchte mich und mein Leben nur nicht darauf reduzieren lassen. Vom Osten in den Westen Ich habe etwa eineinhalb Jahrzehnte und zwei Umzüge gebraucht, um damit meinen Frieden zu machen. Der erste Umzug führte mich von Dresden, wohin ich kurz nach der Wende gezogen war, nach Köln. Um die Jahrtausendwende war in Dresden die heute sehr manifeste, grundsätzliche Unzufriedenheit mit allem schon latent zu spüren und ich ertrug diese Atmosphäre immer weniger. Außerdem war ich neugierig auf "den Westen". Schließlich lebte ich inzwischen ein Jahrzehnt in einem neuen System. Es war an der Zeit, es mir dort anzusehen, wo es das schon immer gegeben hatte. In Köln schlug ich mich irgendwie durch, lernte noch immer ständig über diese Gesellschaft hinzu, verstand gewisse Codes nicht, fühlte mich einsam und unverstanden. Als meine Französischlehrerin am lnstitut Francaise mich einmal fragte, ob ich mich wie eine Ausländerin fühlte, war ich überrascht. So hätte ich es nicht formuliert, aber die Frage traf mich. Fremd blieb ich, weil sich kaum jemand die Mühe machte, verstehen zu wollen, wer ich war und wo ich herkam. Man wusste es ja: Unrechtsstaat, Stasi, begrenztes Warenangebot, Mauerfall, (Un-)Dankbarkeit. Und das hatte man auch noch alles bezahlt mit seinem Soli-Zuschlag. Dass der auch von Arbeitnehmern im Osten gezahlt wurde, wusste man oft nicht. Dass im Osten viele Leute gern Soli-Zuschlag gezahlt hätte, weil das bedeutet hätte, dass sie gut bezahlte Arbeit gehabt hätten, interessierte auch eher nicht. Ich hätte gern davon erzählt, aber so genau wollte man es dann doch nicht wissen. Ich verlor meine anfängliche Neugier und fiel in einen Überlebensmodus, in dem ich von einem anderen Leben träumte. Eines Tages würde ich ausbrechen und woanders ein neues Leben beginnen. Vielleicht in Afrika? Nie träumte ich von Amerika, Australien oder Asien. Ich wusste über keinen der Kontinente besonders viel und meine schlechtbezahlten Jobs sorgten gerade mal für Miete und Essen. Vermutlich würde ich Afrika erst im nächsten Leben sehen. Zurück nach Hause Irgendwann gab ich es auf, in Köln heimisch werden zu wollen. Ich hörte auf, mich dafür zu kasteien, dass ich es nicht geschafft hatte und gestattete mir den Gedanken, dass Köln und womöglich "der Westen" und ich einfach nicht zusammenpassten. Ich wollte nach Hause, was nur irgendwie diffus "der Osten" war, wobei ich weder meine Heimatstadt Schwerin noch Dresden in Erwägung zog. Berlin war der einzige Ort, der in Frage kam. Ich landete im Westen der Stadt, denn den Osten, den ich aus meiner Jugend kannte, gab es nicht mehr. Ich erkannte bestenfalls die Straßennamen wieder, nicht aber die Straßen. Was mir die wunderbare Möglichkeit gab, mich neu zu entscheiden. Und es geschah noch etwas Wunderbares: Von einem Tag auf den anderen fiel die Last des Fremd- und Unverstanden-Seins von mir ab. In Berlin spielten Ost und West keine Rolle mehr. Die Codes, an denen man sich erkannte, hatten sich vermischt mit denen der Franzosen, Engländer, Israelis, Amerikaner, Australier. Sie alle – und noch viele Menschen aus anderen Nationen bevölkerten die Stadt, waren neugierig aufeinander. Da war kein Platz für kleinliches, deutsches Ost-West-Aufrechnen. Für die Erleichterung, die mir das bescherte, werde ich Berlin ewig dankbar sein. Da war es, das andere Leben, von dem ich mich in Köln manchmal gefragt hatte, ob es das geben könnte. Ich fing wieder an zu schreiben, was ich während meiner Kölner Jahre vollkommen vernachlässigt hatte. Ich schrieb einen Roman, von dem ich wusste, dass er nicht gut genug für die Öffentlichkeit war, ich ihn aber fertigschreiben musste, um daraus zu lernen. Ich fand Freunde aus Frankreich, Schweden, Australien und Israel. Und ich verdiente auf einmal so viel Geld, dass am Ende des Monats etwas übrigblieb. Genug, um endlich ernsthaft über Reisen nach Afrika nachzudenken. Afrikanische Freunde hatte ich nicht. Wie auch – Afrikaner sind in der Regel von den großzügigen Visaregeln ausgeschlossen, die für andere Nationen gelten. Im Grunde wusste ich noch immer nichts über Afrika und Afrikaner. Was schon damit begann, dass ich keine Ahnung hatte, wo welche Länder lagen – außer Südafrika, was kein Kunststück ist. Aber wie lebten die Menschen dort? Wie lebten sie damit, dass sie nicht einfach nach Europa durften, nicht einmal zu Besuchszwecken? Wie lebten sie mit den Folgen von Sklaverei und Kolonisation? Und wie empfinden sie die aktuelle Ausbeutung: Schokolade, Kaffee, Gold, Diamanten, Kobalt … ? So genau hatte ich mir diese Fragen nie gestellt. Doch ich zuckte zusammen, wenn jemand etwas sagte wie: " Die wollen alle nach Europa." " Die denken, hier liegt das Geld auf der Straße." Oder auch: " Die sind ja so dankbar, wenn man ihnen etwas schenkt." Das alles erinnerte mich an die Art und Weise, wie früher über mich gesprochen worden war. So wollte ich nicht dorthin reisen. Ich wollte kein fertiges Urteil haben. Ich wollte mit eigenen Augen sehen. Zuhören. Ich wollte es besser machen. Endlich in Afrika Ich reiste nach Afrika. Zuerst in den Senegal, in einer Gruppe von vier Leuten. Schon da hätte ich mich lieber länger mit unserem Reiseleiter unterhalten als noch ein Stück Land zu sehen. Ich war mir sicher, dass ich zurückkommen würde. Ich fuhr nach Kapstadt, wo ich im Rahmen eines Freiwilligenprojekts in einem Kindergarten arbeitete. Ich verliebte mich in einen Kongolesen, der in Kapstadt lebte. Ich besuchte ihn später mehrfach, und bekam eine Ahnung von den komplizierten Beziehungen der afrikanischen Länder und ihrer Bewohner untereinander. Leider zog es ihn überhaupt nicht nach Europa und ich konnte mich nicht für ein Leben in Südafrika entscheiden. Wir scheiterten an der Entfernung – der geografischen wie der kulturellen. In Äthiopien traf ich Adane, mit dem mich mehr verbindet als es zunächst schien: Er hatte in der DDR studiert, später für ein großes Bauunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet und sich schließlich dafür entschieden, in seine Heimat zurückzukehren – trotz wiederkehrender Umbrüche auch in Äthiopien. Ich hatte den Übergang von der DDR in die BRD für mich als die herausforderndste Zeit meines Lebens definiert – wie musste es für ihn erst gewesen sein, in einem Leben, in dem die Umbrüche häufiger und vor allem meist brutaler waren? Seine Lebensgeschichte elektrisierte mich so sehr, dass ich ihn fragte, ob ich darüber einen Roman schreiben dürfe. Nach drei Tagen Bedenkzeit willigte er ein. Ich kehrte noch einmal zurück nach Äthiopien, um ihn wochenlang über sein Leben zu befragen. Der Roman erscheint 2024. Mit Adane telefoniere ich bis heute beinahe wöchentlich, um zu hören, wie das Leben in Äthiopien gerade ist. Meine Familie in Dakar Ich reiste erneut in den Senegal und mietete mir diesmal in Dakar ein Zimmer bei einer einheimischen Familie. So konnte ich einen Einblick in das ganz normale Leben der Menschen bekommen. Aus diesem Kurzaufenthalt entwickelte sich eine Freundschaft. Inzwischen teile ich alljährlich einige Monate den Alltag meiner senegalesischen Freunde, sehe ihre Kinder aufwachsen und gehöre quasi zur Familie. 2020 habe ich mich als Lektorin selbständig gemacht, auch mit der Idee, meinen Arbeitsalltag häufiger nach Dakar zu verlegen und davon zu erzählen. Von meinen Aufenthalten dort hatte ich schon seit 2017 erzählt, zunächst im Blog des Autorenvereins 42erAutoren , später in meinem eigenen. Auch Bücher von afrikanischen Autoren oder solche, die sich mit Afrika beschäftigen, stelle ich vor. Ich tue das, weil ich möchte, dass die Menschen in Europa, in Deutschland mehr über die Menschen erfahren als das, was die Zeitungen anbieten: Hunger, Katastrophen, Überbevölkerung, Armut, Krieg, Korruption. Das alles gibt es, aber es ist nur ein Teil dessen, was den Kontinent ausmacht. Die Nachrichten verschweigen die Großzügigkeit der Menschen, ihre Gelassenheit. Sie erzählen nichts von der Neugier und nichts davon, wie viel (manchmal auch: wie wenig) die Menschen dort über uns wissen. Vor allem aber erzählen die Nachrichten nichts über unsere peinlichen Wissenslücken in Bezug auf Afrika. Sie verschweigen die Demut, die auch uns in Europa manchmal gut zu Gesicht stünde. Sie verschweigen, was wir von den Menschen dort lernen können. Ich jedenfalls bin jedes Mal wieder froh über die Lektionen in: Gelassenheit, Demut, Geduld. Über neue An- und Einsichten. Darüber, dass dort viel gelacht wird. Ich bin ein fröhlicherer Mensch in Afrika. Über Afrika erzählen leistet einen kleinen Beitrag zur Völkerverständigung. Denn ich bin überzeugt davon, dass wir friedlicher und freundlicher miteinander umgehen, wenn wir mehr voneinander wissen.