Der Rucksack bleibt in Istanbul
"Last call for passengers to Dar es Salaam", feuert mich die Lautsprecherstimme an, während ich durch den Istanbuler Flughafen sprinte und tatsächlich erfolgreich bin – als eine der letzten steige ich ins halbleere Flugzeug. Durch die Wetterbedingungen sind viele Zubringerflüge verspätet und offensichtlich haben nicht alle Passagiere einen Sprint hingelegt wie ich. Als ich auf das verschneite Flugfeld schaue, wird mir klar, dass mein Rucksack wohl nicht in der Maschine sein wird.
Morgens gegen halb fünf ist es Gewissheit, mein Rucksack ist nicht in Tansania angekommen. Vor dem Lost-and-Found-Schalter stehen mindestens fünfzig herrenlose Gepäckstücke. Wird mein Rucksack dort womöglich auch bald stehen, verloren und vergessen? Mit meinen Kleidern und dem Adapter für die hiesigen Steckdosen, mit meinem Badeanzug und meiner Zahnbürste? Einen Moment lang stelle ich mir vor, dass ich all das nicht wiedersehen werde – dann konzentriere ich mich auf die Anweisungen der Angestellten und gebe die Auskünfte, die sie braucht. Überrascht registriere ich, dass mein Kopf für Rucksack nur das französische sac à dos ausspuckt. Ich war vorher knapp zwei Monate im Senegal und werde wohl noch eine Weile brauchen, ehe ich den Sprachumstieg geschafft habe. Die Angestellte ist sehr geduldig mit mir. Wir hoffen beide, dass mein Rucksack – endlich fällt mir auch backpack ein – am nächsten Tag zur selben Zeit eintrifft, man wird es mir dann nachschicken. Allerdings braucht sie eine tansanische Telefonnummer von mir, um mich zu informieren. Ich habe noch keine Telefonnummer, ich habe noch nicht einmal ein Visum. Irgendwie klären wir, wann ich wo anrufen und meine Telefonnummer durchgeben kann und ich bin vorsichtig optimistisch.
Draußen schüttet es wie aus Eimern, immerhin bei etwa 25 Grad, irgendwie gefällt es mir sogar, dass ich jetzt keinen großen Rucksack durch den Regen tragen muss. Nachdem ich allerdings nach drei Minuten Fußweg völlig durchnässt bin, beschließe ich, nicht den Bus zu suchen, sondern ein Taxi zum Busbahnhof zu nehmen, von wo aus die Überlandbusse abfahren. Auch nach Morogoro. Dort warten nämlich Andrea und Gerhard auf mich, Kölner Freunde, die vor zwei Tagen in Tansania angekommen sind und den Westen erkunden wollen, während mein Ziel der Norden ist: Die Serengeti und der Kilimandjaro. Aber einen Tag werden wir zusammen in Morogoro verbringen, mal wieder zusammen ein Bier in Afrika trinken, wie wir es vor einigen Jahren schon einmal in Addis Abeba getan haben. Auch damals trennten sich unsere Wege nach einem Tag. Es tut gut, in einem mir völlig fremden Land irgendwo erwartet zu werden.
Während der Busfahrt macht sich die Nacht im Flugzeug bemerkbar – immer wieder schlafe ich ein, habe auch genug Zeit dafür, denn für die 200 Kilometer von Dar es Salam nach Morogoro braucht der Bus fast vier Stunden. Inzwischen hat der Regen nachgelassen und ich kann besser erkennen, was er in diesem Land bewirkt: Die Landschaft ist grün, überall blühen Pflanzen und auch die Baobabs tragen Blätter. Ich bin im Februar sonst oft im Senegal – dort ist jetzt Trockenzeit und die Baobabs sind kahl. Hier erkenne ich sie zunächst gar nicht, weil durch ihr Blätterkleid die typischen, wurzelförmigen Äste nicht zu erkennen sind.
Wiedersehen mit Freunden
Im Guesthouse in Morogoro muss ich zunächst auf Andrea und Gerhard warten und nutze die Zeit für ein kurzes Gespräch mit einem anderen Gast, der mir auch gleich das Kennwort für seinen Hotspot gibt, weil es hier kein W-Lan gibt. Ein freundlicher Empfang, das wird auch so bleiben, als ich einen kurzen Spaziergang unternehme, werde ich ständig mit Jambo (Hallo) oder Karibu (Willkommen) begrüßt. Es gibt im Guesthouse ein Handtuch, Seife und eine (kalte) Dusche. Eine kleine Reisezahnbürste habe ich dabei – in weiser Voraussicht ins Handgepäck gesteckt. Nach der Dusche muss ich allerdings wieder in die Jeans steigen, die ich in Berlin angezogen hatte, um bei null Grad zum Flughafen zu fahren und das T-Shirt anziehen, in dem ich insgesamt fast zehn Stunden im Flugzeug und vier Stunden im Bus gesessen habe. Jetzt aber – die Sonne scheint und es sind sicher 28 Grad – bin ich in der Jeans etwas overdressed.
Als meine Freunde ankommen und wir glücklich unsere Anreisegeschichten ausgetauscht haben, leiht Andrea mir einen Kamm und einen Rock. So bin ich wenigstens die Jeans los. Ich kaufe ein Kleid, das ich allerdings noch kürzen lassen muss, aber wenigstens werde ich am nächsten Tag etwas Leichteres anzuziehen haben.
Und dann helfen sie mir bei der Suche nach einem Vodafon-Shop. Gemeinsam suchen wir die für mich passende SIM-Karte aus (ich brauche ein großes Datenpaket, denn ich muss ja auch arbeiten in meinen Wochen hier). Ich bin froh, dass sie das alles gestern schon für sich getan haben, so geht es jedenfalls schneller, als wenn ich mich allein auf die Suche machen müsste.
Schließlich bekomme ich von ihnen einen Crashkurs zu allen Dingen, die ich hier wissen muss: Essen und Bett gibt es hier fast überall, das Busnetz ist sehr gut ausgebaut und die Menschen sind unglaublich hilfsbereit. Außerdem gibt es einen Crashkurs In Kisuaheli, das Gerhard ein wenig spricht. Denn so viel habe ich inzwischen verstanden: Mit Englisch werde ich in kleinen Städten nicht weit kommen. Ich mache mir eine lange Liste mit den wichtigen Wörtern: Wasser, Bier, Kaffee, groß, klein, warm, kalt usw. Und endlich auch Antworten auf das mir hier immer wieder zugerufene Karibu und Jambo, auf das mir mehrfach ein Ca va rausrutscht. Wenn mir rechtzeitig einfällt, dass das hier völlig unangebracht ist, bleibt mir bislang nur ein schiefes Lächeln.
Vor allem nehmen wir uns die auf Kisuaheli verfasste Speisekarte in dem Restaurant vor, in dem wir essen, damit ich zwischen Rind, Huhn, Ziege oder Fisch wählen kann. Und zwischen gebrühtem oder gekochtem Reis, Maisbrei oder Chipsi (Pommes). Gemüse gibt es immer dazu: ein grünes, spinatartiges (ich finde, es ähnelt mehr Grünkohl als Spinat, aber es schmeckt jedenfalls) und gekochte Bohnen. Im Übrigen isst man hier mit der rechten Hand.
"Wir kriegen aber meist einen Löffel dazu", sagt Andrea.
Und dann stoßen wir endlich mit einem Kilimandjaro an – die Biersorten heißen hier nämlich so: Kilimanjaro, Serengeti, Safari …
Wiedersehen mit meinem Rucksack
Am nächsten Morgen um halb sieben kommt der Anruf: Mein Rucksack ist jetzt in Dar es Salaam und soll zwischen 16 und 17 Uhr mit einem Bus in Morogoro ankommen. Ich kann ihn im Büro der Busgesellschaft abholen. Andrea und Gerhard unternehmen einen längeren Ausflug – was ich wegen des Wartens auf meinen Rucksack nicht in Erwägung ziehe. Außerdem steckt mir der Flug noch im Körper und ich fühle mich noch zu erschöpft, um vier Stunden Bus zu fahren.
Stattdessen entscheide ich mich für eine kleine Wanderung in die Uluguru Berge, die sich südlich von Morogoro erheben. Von oben aus bieten sich mir wunderbare Ausblicke in die grünen Täler. Manchmal begegne ich Menschen, die mich auch hier stets freundlich mit Karibu begrüßen. Das ist mein erster Eindruck von Tansania: Sehr herzliche Menschen, denen daran gelegen ist, dass Gäste ihres Landes sich willkommen fühlen.
Am Nachmittag, kurz vor 17 Uhr gehe ich an die Straßenecke, wenige Schritte vom Guesthouse entfernt und zeige den Motorradtaxifahrern die Nachricht mit dem Namen der Busgesellschaft, damit mich einer von ihnen dorthin fährt. Optimistisch bitte ich ihn, vor dem Büro zu warten, ich muss ja nur meinen Rucksack nehmen, dann kann ich gleich wieder mit ihm zurückfahren. Aber natürlich ist der Rucksack noch nicht da. Also beschließe ich, in der Stadt zu bleiben und in einem nahegelegenen Café auf den Anruf des Angestellten der Busgesellschaft zu warten. Ich lasse das afrikanische Treiben an mir vorüberziehen, trinke einen Avocadosaft und dann noch einen zweiten, der erwartete Anruf kommt nicht. Geht mein Rucksack so kurz vor dem Ziel doch noch verloren? Ich habe ja inzwischen gelernt, dass in Afrika vieles viel besser organisiert ist als ich oft glaube, aber ein leichter Zweifel bleibt. Gegen 18:30 schaue ich noch einmal bei der Busgesellschaft vorbei, doch der Angestellte schüttelt den Kopf. Etwas irritiert, weil ich ihm nicht vertraue. "Ich rufe dich an."
Als ich eine Viertelstunde später im Guesthouse ankomme, kommt der Anruf und ich gehe – jetzt in der Dunkelheit – wieder zu den Motorradtaxis. Einer der Männer schaut mir entgegen und fragt gleich: "Abood bus?" Meine Schritte sind hier also gut beobachtet worden – was ich aber als eher freundliche Geste, denn bedrohliche Überwachung empfinde. Natürlich, wir sind hier so was wie eine Attraktion – drei Mzungu (Weiße), die mehrere Tage in der Stadt bleiben. Morogoro liegt einfach nicht direkt an den von westlichen Touristen frequentierten Strecken.
Und endlich habe ich ihn, meinen sac à dos, pardon, backpack. Ich entschuldige mich für meine Ungeduld bei dem Angestellten, der lächelnd fragt, ob ich nun erleichtert sei.
"Ja", sage ich, "alle meine Kleider. Meine Zahnbürste. Und mein Deo."
Wir lachen beide, als ich den Empfang quittiere.
Abschied von Freunden
Nachdem ich meine Wiedervereinigung mit all meinen Sachen ausgiebig genossen habe, unter anderem damit, dass ich die Nacht in meinem Schlafshirt verbracht habe, heißt es Abschied nehmen. Andrea und Gerhard machen sich auf ihren Weg in Richtung Südwesten. Zusammen trinken wir in einem Restaurant noch einen von diesen exotischen Säften – diesmal Mango – dann trennen sich unsere Wege. Ich schaue ihnen nach auf ihrem Weg, bevor ich zurück ins Guesthouse gehe, wo ich ein paar liegengebliebene E-Mails abarbeite.
Jetzt bin ich ganz allein irgendwo mitten in Afrika. Und einen Moment lang fühle ich mich schrecklich einsam und habe einen Anfall von: Was mache ich hier eigentlich? In diesen Momenten helfen zwei Dinge: Auf die Wetterkarte von Berlin zu schauen, das noch immer im Februargrau liegt und auf die Straße zu gehen. Auf Jambo mit Jambo zu antworten, auf Karibu mit Assante (danke). Mir ein Essen zu bestellen und stolz darauf zu sein, dass ich den Fisch mit der rechten Hand esse. Einen Löffel bekomme ich nicht und auf der mit Gerhard erstellten Wörterliste steht das Wort nicht.
Gut gesättigt und froh über meine ersten kleinen Schritte allein in einem fremden Land denke ich daran, wie ich mich von Andrea und Gerhard vor fünf Jahren in Addis Abeba verabschiedete. Damals flog ich drei Wochen später zurück nach Deutschland und hatte einen Romanstoff im Gepäck, der mich drei Jahre beschäftigte. Ich bin gespannt, was ich diesmal mit nach Hause bringen werde.