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Nachklapp: Senegal a gagné oder: Mein erster Autokorso

26. Mai 2022

Ich bin pleite. Das stimmt nicht ganz, aber es fühlt sich so an. Ich sitze an einem Februartag in Dakar und habe noch 1500 CFA-Francs in der Tasche, was etwa 2 € entspricht. Gerade bin ich in sengender Mittagshitze auf meist sandigen Wegen zu den drei fußläufig erreichbaren Automaten gestapft, was etwa zwanzig Minuten dauert. Keiner der drei war an diesem Tag bereit, mir Geld zu geben, was nicht an meinem Kontostand liegt. Ich bin wirklich gern in Afrika – wegen der Sonne und der Gelassenheit der Menschen; ich mag das Unperfekte, das nicht einmal den Anspruch hat, perfekt sein zu wollen. Aber muss Afrika ausgerechnet dann unperfekt sein, wenn ich Geld brauche?


Ich bin inzwischen knapp zwei Monate im Senegal und meine anfängliche Freude über das unorganisierte Leben hier ist etwas erschöpft und weicht immer häufiger der Frage, wie die Menschen hier das ihr Leben lang aushalten – und sich davon nicht ihre Lebensfreude nehmen lassen. Ich ärgere mich auch darüber, dass ich Khadys Mann Khadim vor drei Tagen mein fast letztes Geld geliehen habe und der Versicherung geglaubt habe, es in zwei Tagen zurückzubekommen. Schließlich kenne ich Afrika lange genug, um zu wissen, dass das hier nie funktioniert.

Jetzt habe ich nicht einmal mehr Geld, um mit einem Taxi – dem zentralen öffentlichen Verkehrsmittel – zu einem anderen Automaten zu fahren. Also verbringe ich den Nachmittag schlecht gelaunt zu Hause. Eigentlich hatte ich meine Wäsche in die Wäscherei bringen wollen. Hier gibt es keine Waschsalons wie zu Hause, sondern nur solche, in denen man seine Wäsche abgibt und die Frau in der Wäscherei sie dann in die Waschmaschine stopft, zum Trocknen aufhängt, später von der Leine nimmt und faltet. Das ist nett, weil man sich wirklich um nichts kümmern muss und in einem Land mit hoher Arbeitslosenquote unterstütze ich Unternehmerinnen gern. Das Einzige, was mir daran missfällt: Der Vorgang dauert nicht wie im Waschsalon zwei Stunden, sondern zwei Tage. Ich muss das also bald machen, wenn ich meine Wäsche vor dem Wochenende sauber zurückhaben möchte.

Ich müsste meine kaputten Schuhe zum Schuster bringen und meinen Wocheneinkauf machen, der sich hauptsächlich auf Bier beschränkt, da meine Gastgeberin Khady in der Regel für mich mit kocht. Es ist einfach unkomfortabel, kein Geld in der Tasche zu haben. Dabei habe ich eine gut gedeckte Kreditkarte und auch Bargeld, nur in der falschen Währung. Vermutlich kann ich hier in der Nähe irgendwo Euros in CFA-Francs tauschen, aber ich weiß nicht wo und bin von meinem erfolglosen mittäglichen Marsch so erschöpft und schlecht gelaunt, dass ich nirgends hingehen und fragen mag. Vermutlich werde ich erst morgen erneut zum Geldautomaten aufbrechen – denn wie ich Afrika kenne, ist auch die Reparatur von Geldautomaten keine Sache von Stunden, sondern eher von Tagen.


Immerhin verspricht der Abend einen Lichtblick, Khady, die Kinder (zwei und fünf) und ich werden zusammen Fußball gucken. Coupe d’afrique des nations, Halbfinale, Senegal gegen Burkina Faso. Für das Viertelfinalspiel gegen Äquatorialguinea hatte Khady für sich und ihr Auto einen Wimpel und für die Kinder Schweißbänder in den Farben der senegalesischen Flagge (wie bei den meisten afrikanischen Ländern: Grün, Gelb, Rot) gekauft. Für das Halbfinalspiel gibt es Tröten in eben diesen Farben und die Kinder lieben sie sofort. Über den infernalischen Lärm hinweg schreie ich Khady zu, dass sie sich sicher bald fragen wird, warum sie diese Teile gekauft hat. Sie brüllt mit breitem Grinsen zurück, dass sie sich das jetzt schon fragt. Und fügt hinzu: „Wir gewinnen heute Abend. Zwei Null.“  Meine Frage, ob sie auch Lottozahlen vorhersagt, geht im Träää-Träää der Kinder unter.


Glücklicherweise haben es Kinder in dem Alter ja noch nicht so mit Ausdauer und irgendwann lässt der Lärm nach. Ich finde mich zehn Minuten vor Beginn des Spiels mit meinem letzten Bier im Salon ein, um etwas vom Einstimmungsprogramm mitzubekommen: Diskussionen zur Spieleraufstellung und möglichen Taktik – jedenfalls vermute ich das, ich verstehe nämlich erstens kein Wolof (die Hauptsprache des Senegal) und zweitens von Fußball überhaupt nichts. Aber es gefällt mir, dass Bilder vom gemeinschaftlichen Fußballschauen gezeigt werden, das in Dakar an verschiedenen Orten möglich ist. Unter anderem nur fünf Minuten Fußweg von uns entfernt am Fuße des Monument de la Renaissance africaine, einem Kunstwerk, das ich zugleich faszinierend und scheußlich finde: 52 Meter hoher bronzener Sozialistischer Realismus. Ein in Richtung Westen schreitender Mann trägt auf einem Arm ein Kind und zieht mit dem anderen eine Frau hinter sich her. Ich weiß nicht, ob die Dakaroises das Monument mögen, vermute aber, dass sie dazu nicht viel zu sagen haben. Es wird damit sein wie so vieles hier: Es ist einfach da. Die Freifläche vor dem Monument jedenfalls mögen sie, zum Schlendern, Skaten, Joggen - die Dakaroises sind sehr sportlich, überall an der Corniche stehen öffentliche Klimmzugstangen und andere Geräte, die die zahlreichen Jogger zur Abwechslung nutzen; an den Stränden wird Fußball gespielt, gejoggt oder sich mit Sit-ups in Form gebracht. Der Platz vor dem Monument wird auch für Märkte oder Konzerte genutzt oder eben zum gemeinsamen Fußballschauen. Was hier nicht vordergründig deshalb bereitgestellt wird, weil gemeinsames Schauen netter ist, sondern weil sich viele Dakaroises schlicht keinen Fernseher leisten können. 


Pünktlich zu Spielbeginn haben sich noch eingefunden: Khadys fünfzehnjährige Nichte Farih und ein Nachbar, der schon beim Viertelfinale Khadys Jubelfreude empfindlich gestört hatte. „Wenn der Nachbar mich mit Madame Sarr anspricht, kann ich doch hier nicht laut schreien oder jubeln“, hatte sie sich bei mir nach dem Spiel beklagt. Auf meine Frage, warum sie ihn überhaupt eingelassen hat, sah sie mich befremdet an: „Dies ist Afrika, da sagt man nicht nein. Aber das nächste Mal mache ich einfach nicht auf.“ Das hat offensichtlich nicht geklappt. Wahrscheinlich darf man in Afrika auch nicht einfach die Tür nicht öffnen – es widerspricht dem Gedanken der Gastfreundschaft.


Über das Spiel kann ich nicht viel sagen – wie gesagt, ich habe von Fußball keine Ahnung. Zur Halbzeit steht es immer noch Null zu Null, aber Khady bleibt fröhlich, denn sie weiß ja, dass ihre Mannschaft Zwei zu Null gewinnen wird. Erst ab der 70. Minute purzeln die Tore und in der 76. Minute scheint Khadys Vorhersage einzutreffen. Dabei hören wir den Torjubel vom Monument jedes Mal schon, bevor wir die Tore auf unserem Bildschirm sehen, der große Bildschirm scheint ein schnelleres Signal zu haben. Es fallen dann noch zwei Tore: eines für Burkina Faso und schließlich, in der 87. Minute das erlösende und finale Drei zu Eins. Jetzt ist Dakar nicht mehr zu halten: Silvesterraketen werden gezündet, es wird gehupt, gejubelt, gebrüllt, gesungen, getanzt. Khadys Kinder stehen auf dem Balkon, winken mit Fähnchen und brüllen für alle, die es womöglich noch nicht mitbekommen haben, immer wieder: „Senegal a gagné“. Wir sehen vom Balkon aus Menschenmassen in Richtung Monument strömen und im Fernseher die Bilder mit denen, die schon dort sind und feiern.


Mein Verhältnis zu großen Fußballturnieren lässt sich am besten damit beschreiben, dass ich 2014 den Bäcker in meiner Straße etwa ein halbes Jahr lang boykottierte, weil ich am 14. Juli auf die Frage nach einem bestimmten Brötchen zur Antwort bekam: "Das sind Weltmeisterbrötchen." Ach, da sind also Weltmeister drin? Ich nahm dann ein anderes Brötchen und danach lange gar keines mehr in diesem Laden. Aber hier, an diesem Februarabend in Dakar teile ich die Freude all jener, die dort singen, tanzen, rufen, feiern. Vielleicht liegt es an meinem komplizierten Verhältnis zu Deutschland, dass ich immer das Gefühl habe, ein Sieg dort heißt: „Wir sind eben besser als der Rest der Welt“. Hier fühlt es sich eher an wie: „Wir können auch etwas gewinnen“. Das macht es sehr viel sympathischer.  


Gerade, als wir finden, nun ist genug gefeiert und die Kinder sollten ins Bett gehen – schließlich müssen beide morgen in die Schule beziehungsweise in den Kindergarten – verwickelt eine vor dem Haus stehende Nachbarin Khady in ein Gespräch. Ich bin schon auf dem Weg in mein Zimmer, um in Stille den Abend ausklingen zu lassen, der meinen Gastgebern und schließlich auch mir so viel Freude bereitet hat, da ruft Khady mir zu: „Komm schnell, wir nehmen das Auto der Nachbarin.“ Und weil ich nicht sofort reagiere, ruft sie noch einmal: „Vite, vite!“

Da Khady ansonsten die afrikanische Gelassenheit in Person ist und es nie wirklich eilig hat, verstehe ich, dass es jetzt wirklich schnell gehen muss. Muss ich irgendwas mitnehmen? Ich bin noch nie in einem Autokorso mitgefahren. Mein Kleid hat keine Taschen und eine Handtasche zu packen reicht die Zeit nicht aus. Mein Portemonnaie brauche ich nicht, weil eh nichts drin ist, meinen Schlüssel finde ich nicht. „Schlüssel hab‘ ich, schnell, schnell“, sagt Khady, die den Zweijährigen auf dem Arm hat, in T-Shirt und mit Windel, ohne Schuhe. 


Und dann sitzen wir im Auto: Khadys Kinder und der Junge der Nachbarin, eine Jugendliche und ich auf der Rückbank, vorn Khady und die Nachbarin, die immerhin noch ein Tuch um die Haare geschlungen hat. Die Frauen hier halten es unterschiedlich mit der Frage der Kopfbedeckung – Khady habe ich noch nie mit Kopftuch gesehen, viele Frauen tragen Tücher in der Farbe ihrer Kleider mit satten Farben und aufwändigen Mustern, wieder andere tragen feine, fast durchscheinende Schals. Von dieser Art ist das Tuch der Nachbarin, das ihr Haar noch vollständig bedeckt – im Laufe unserer Fahrt wird sich das Tuch lösen, so dass ich die kleinen Zöpfchen sehen werde, die sie darunter trägt. Sie wird sich das Tuch ein-, zweimal zurechtzupfen, es irgendwann aber aufgeben. Jetzt drückt sie jedenfalls erst einige Male kräftig auf die Hupe und dann geht es los: Ich fahre mit einer wild hupenden Muslima im Autokorso durch Dakar und kann mich kaum darüber wundern, weil alle so laut durcheinander brüllen. Also brülle ich einfach mit.

Senegal a gagné! Senegal a gagné! Senegal a gagné!


Wobei wir zunächst kaum fahren, sondern die meiste Zeit hinter anderen Autos stehen, bestenfalls in Zentimeterschritten vorwärts schleichen, weil die Straße verstopft ist von Autos und Fußgängern, die sich mit Khady und Farih an den offenen Fenstern abklatschen und sich gegenseitig noch einmal auf den neuesten Stand bringen: Senegal a gagné! Dabei sind alle vertreten: Junge Frauen in Jersey-Kleidern oder auch in Jeans und T-Shirts, ältere Frauen, in langen Kleidern mit schmalen Röcken, bei denen ich mich ständig frage, wie man in solchen Kleidern seinen Alltag meistern kann. Männer in Boubous oder ebenfalls in Jeans und T-Shirt oder Hemd. Auf der Gegenspur stehen die Autos ebenfalls und Ami, die Nachbarin, tanzt mit dem Fahrer des Autos gegenüber, sie schütteln die Schultern, wiegen den Kopf, schwingen die Arme, soweit das am Steuer eines Autos möglich ist. Im Kreisverkehr vor dem Monument führen ein paar Schauspieler eine Performance auf, ein Stück weiter sitzen Trommler und feiern den Sieg auf ihre Weise.


Allein für die eineinhalb Kilometer durch das Viertel Ouakam brauchen wir schätzungsweise vierzig Minuten. Alle feiern, als seien sie gerade mindestens Weltmeister geworden und ganz kurz beschleicht mich der Gedanke: Gut, dass sie heute feiern, denn wer weiß, ob sie am Sonntag nach dem Endspiel dafür noch einen Grund haben werden. Natürlich behalte ich diesen Gedanken für mich – mir würde sowieso niemand zuhören. Gleichzeitig frage ich mich, wie es hier wohl aussehen wird, wenn der Senegal das Endspiel am Sonntag tatsächlich gewinnen sollte. Ich würde das gern erleben.  


Endlich biegen wir auf die Corniche ein und können etwas schneller fahren, zusammen mit Autos, deren Insassen in den heruntergekurbelten Fenstern sitzen, Fahnen schwingen und singen, wie auch das Dutzend Passagiere auf der Ladefläche eines Pick-ups. Am Place des Souvenirs werden wir erneut von einer Menschenmenge aufgehalten, die auf der Straße einen Tanz aufführt und uns erst nach langen Minuten passieren lässt. Weiter geht es, nach Yoff, wo die Menschenmengen allmählich kleiner werden und sich verteilen, dort sitzen die Fans noch vor den kleinen Boutiquen und Dibiterien, winken und lachen und wiederholen die Nachricht des Tages: Senegal a gagné. Nur ein paar Männer sind unbeeindruckt – Kongolesen vielleicht oder Guineer, von denen hier viele leben, und deren Mannschaften schon längst ausgeschieden sind.


Nach etwa eineinhalb Stunden im Auto wird es stiller. Bilal ist inzwischen auf meinem Schoß eingeschlafen, Momo ist zu seiner Mutter auf den Beifahrersitz geklettert und winkt nur noch manchmal mit seinem Fähnchen. Auch in den Straßen ist es stiller, hier und da drängen sich noch ein paar Menschen zusammen, aber die allermeisten sind inzwischen nach Hause gegangen. Morgen ist Donnerstag – man muss die Kinder in die Schule schicken und zur Arbeit gehen. Wir liefern Khadys Nichte zu Hause ab und tragen schließlich die inzwischen eingeschlafenen Kinder nach oben. Das war er also, der erste Autokorso meines Lebens. Für manche Erfahrungen muss man eben tausende Kilometer weit reisen.


Als ich in mein Zimmer zurückkehre, bin ich überrascht: Dakar ist still, ohne die sonst üblichen nächtlichen Geräusche. Kein Kind schreit nach seiner Mutter, kein Paar streitet, keine Autos hupen. Selbst die sonst stets meckernden Ziegen schweigen. Nirgends prasselt Wasser in ein großes leeres Gefäß, weil jemand seinen Wasservorrat für den nächsten Tag auffüllt. Und es gibt hier keine Gruppe von Leuten, die ihre Freude mit noch einem Bier und noch einem verlängert und dabei immer lauter wird. Hier wird wenig Alkohol getrunken und wenn, dann jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Vielleicht ist mir auch deswegen der hiesige Jubel so viel sympathischer. Und schließlich scheinen die Dakaroises daran zu denken, dass dies erst das Halbfinale war. Das Wichtigste kommt noch.


Am nächsten Tag ist Khady heiser, wie auch der Muezzin, der mit seinen Gebetsrufen den hiesigen Tag strukturiert. Flüsternd kündigt Khady an, für sich und die Kinder fürs Finale Fan-Shirts zu beschaffen. Sie findet, ich sollte mir auch wenigstens ein Fähnchen besorgen. Ich will sehen, was ich tun kann. Schließlich muss ich erst einmal wieder zu Geld kommen.


P.S. Sonntagabend. Khadim hat seine Schulden bei mir beglichen und einer der drei Automaten hat inzwischen tatsächlich Geld ausgespuckt. Meine Schuhe sind repariert und meine Wäsche ist gewaschen, getrocknet und gefaltet. Ein Fähnchen habe ich nicht, aber es gibt davon genug, an diesem Abend in Dakar, an dem Sadio Mané den entscheidenden Elfer verwandelt und der Senegal zum ersten Mal den Coupe d’afrique des nations gewinnt. Aber das ist eine andere Geschichte.

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