In Dakar hatte ich im letzten Winter eine perfekte Lieblingskneipe: Wann immer ich müde von meiner Arbeit am Schreibtisch war und etwas anderes sehen wollte als meinen Laptop, machte ich mich auf den Weg an den Strand Les Mamelles. Nur etwa eine Viertelstunde zu Fuß von meinem Quartier entfernt, lagen dort drei Strandbars nebeneinander, von denen ich eher zufällig gleich am Anfang die mittlere für mein Feierabendbier mit Blick auf den Atlantischen Ozean auswählte, weil mir die erste inzwischen zu fancy war. In früheren Jahren hatte auch sie nur aus einigen zusammengewürfelten Tischen, Bänken und Sonnenschirmen bestanden; jetzt war sie größer, hatte farblich zueinander passende Sitzkissen und Sonnenschirme, eine Spielecke für Kinder, dekorative Pflanzen und eine Terrasse auf der neu entstandenen zweiten Etage. Sie war zu einem beliebten Treffpunkt für europäische Touristen geworden, während ich lieber die Orte der Einheimischen aufsuche. Also wählte ich die zweite Bar, die etwa so war wie die erste vor ein paar Jahren: Alles schien provisorisch, kein Stuhl glich dem anderen, der eine oder andere Sonnenschirm hatte einen Riss, aber wenn man sie gut stellte, hielten sie trotzdem die Sonne ab. Der Wirt brachte mir ein Bier und verschwand dann erst einmal, so dass ich ratlos länger blieb als geplant, schließlich wollte ich nicht die Zeche prellen. Bei seiner Rückkehr kassierte er mit einem entschuldigenden Lächeln, das meine Irritation wettmachte. Wann immer ich wiederkam, suchte der Wirt mir einen guten Platz aus, fragte nur noch der Form halber, ob ich Bier möchte – natürlich wollte ich Bier – und merkte sich bald, dass ich meinen Fisch mit Pommes aß und nicht mit Reis, der hier üblicherweise zu jedem Essen serviert wird. Ansonsten ließ er mich in Ruhe lesen, schreiben oder einfach aufs Meer schauen, während er ständig damit beschäftigt war, seine Bar zu verschönern: einen neuen Tresen zu bauen, den Zaun zu streichen, Tische und Stühle zu reparieren. Nach wenigen Besuchen war ich mir auch sicher, dass ich mir keine Sorgen um meine Tasche mit Smartphone, Geld und Schlüssel machen musste, wenn ich zur Abkühlung ins Meer hüpfte. Kurz: Es war der perfekte Ort, auch und vor allem, weil ich ihn zu Fuß erreichte.
Als ich in diesem Jahr zurückkomme, führt mich mein Weg deshalb an meinem zweiten Tag in Richtung Strand. Doch dort, wo ich im letzten Jahr einen ersten Blick aufs Meer erhaschen konnte und von der großen Straße auf den unbefestigten Weg zum Meer abbog, steht jetzt ein Zaun und Männer, die diesen bewachen. Dahinter: Bagger und LKW.
Aber ich kenne ja noch den zweiten Weg, weniger schön, aber zielführend. Er führt vorbei an diversen Händlern: Kleider, bei denen ich immer überlegte, welche zu kaufen, weil ich die hiesigen Farben mag und es dann doch so gut wie nie tue, weil ich immer daran denke, dass ich die Kleider in Berlin nicht werde tragen können, Kunst und – das habe ich mir erzählen lassen – Marihuana. Die Kleiderhändler sind verschwunden, übriggeblieben sind nur eine der Hütten, in denen Kunst verkauft wurde, und eine Handvoll eher zwielichtiger Gestalten. Ich murmele kaum hörbar eine Antwort auf ihr "Ca va?" und beschleunige meinen Schritt. Endlich erreiche ich die schmale Betontreppe, über die man ebenfalls an den Strand kommt. Der ist tatsächlich nicht gesperrt und eine Minute später richte ich meinen Blick dorthin, wo ich im letzten Jahr mein Bier getrunken habe. Auch dort sperrt jetzt ein Bauzaun den Weg. Davor stehen ein paar vergessene Sonnenschirme auf einem freien Streifen Strand, auf dem sich ein paar Bauarbeiter und eine Handvoll Spaziergänger verteilen. Es sieht noch trauriger aus als vor zweieinhalb Jahren, am Anfang der Corona-Pandemie, als alle Bars und Restaurants in Dakar geschlossen waren und sich nur wenige Dakaroises an den Strand verirrten. Niemand wusste damals, was dieses Corona eigentlich ist, die Vorhersagen für Afrika waren verheerend und die Menschen vorsichtig.
Ich beschließe einen Abschiedsspaziergang bis zu dem Felsen, der das Ende des Strands markiert. Auf das "Ca va?" der Bauarbeiter antworte ich deutlich freundlicher als auf das der zwielichtigen Gestalten auf dem Weg und füge an einen von ihnen gerichtet die Frage an: "Was passiert hier?"
"Hier wird eine Fabrik für Wasser gebaut. Aus Meerwasser wird Trinkwasser." Er begleitet seine Worte mit einer entsprechenden Trinkgeste und klingt durchaus stolz.
"Das ist gut. Aber ich vermisse meine Lieblingsstrandbar. Die war genau dort." Ich zeige auf die Fläche hinter dem Bauzaun.
"Hier waren einige Bars. Die Regierung hat den Besitzern viel Geld dafür bezahlt, dass sie gegangen sind."
"Hat sie das?"
Er nickt bekräftigend.
Immerhin. Ich denke an meinen Wirt vom letzten Jahr, dessen Namen ich nie erfahren habe und frage mich, was er wohl mit dem Geld gemacht hat. Falls er überhaupt ein offizieller Besitzer seiner Bar war.
"Aber meine Lieblingsbar …", sage ich gespielt verzweifelt.
Der Bauarbeiter und ich nicken uns zum Abschied zu mit einer Geste, die sagt: "Da kann man nichts machen."
Mit den Füßen im Meer absolviere ich meinen Abschiedsspaziergang und gehe zurück zu meinem Quartier. Dort befrage ich Google und finde sogar auf Deutsch eine Meldung über die Entsalzungsanlage, die am Strand Les Mamelles in Dakar gebaut wird. Nicht nur Trinkwasser soll es geben, sondern überhaupt ein besseres Wassermanagement für Dakar. Das ist natürlich ein Grund zur Freude. Denn unvergessen ist mir, wie Khady in ihrer früheren Wohnung im dritten Stock allabendlich ein halbes Dutzend 10-Liter-Wasserflaschen für den nächsten Tag füllte, weil der Wasserdruck tagsüber so schwach war, dass nur wenig aus dem Wasserhahn tröpfelte. In der neuen Wohnung gibt es das Problem nicht mehr, es gibt sogar einen Boiler, der die Wohnung mit warmem Wasser versorgt. Bis dahin hieß warm duschen, dass man sich einen Kessel mit Wasser erhitzte, dieses in einer Wanne mit kaltem Wasser zu einer angenehmen Temperatur brachte und wieder und wieder mit einem kleinen Topf über den Körper schüttete. Was ich nur selten tat, bei durchschnittlich 30 Grad Außentemperatur tat eine kalte Dusche es meist auch.
"Warme Dusche", sagte ich damals zu Khady, "das ist doch gar nicht Afrika." Hinterher war mir meine Bemerkung peinlich, schließlich steht mir kein Urteil darüber zu, was Afrika ist. Sie lachte. "Bald kommt der Winter und ich habe zwei kleine Kinder." Winter bedeutet hier, dass statt 30 Grad nur noch 23 herrschen. In etwa. Die Dakaroises tragen dann Mützen.
Der Boiler nutzte uns aber auch nichts, als wir mal drei Tage überhaupt kein Wasser hatten, weil es irgendwo eine Havarie gab. In absehbarer Zeit soll es das alles also nicht mehr geben. Und das ist natürlich eine gute Nachricht.
Aber wo finde ich jetzt eine neue Strandbar?